Shalom - Sehnsucht nach Frieden – Artikel von Dr. Gabriele Pinkl in Gemeinde creativ 12/2020

22.01.2021

Von Gabriele Pinkl
Ehe-, Familie- und Lebensberatung im Bistum Passau

Zur Wortbedeutung von „Shalom“ heißt es: Unversehrtheit, Heil; Befreiung von jedem Unheil und Unglück, Gesundheit, Wohlfahrt, Sicherheit, Frieden und Ruhe. An unserer Beratungsstelle erlebe ich Menschen, die mit unterschiedlichen Fragen und Problemen, oft aber letztlich mit einer großen Sehnsucht nach Shalom zu uns
kommen.


Familien, deren Leben voll von Konflikten ist und die nicht wissen, wie sie mit ihrer Situation umgehen sollen; Paare, die sich zerstritten haben – so sehr, dass sie manchmal keinen gemeinsamen Weg mehr miteinander gehen können; Eltern, die vielleicht trotz einer Trennung als Paar versuchen wollen, für ihre Kinder da zu sein und diese stabil ins Leben zu begleiten, aber sich nicht einig werden, wie das gelingen kann, ohne sich gegenseitig zu blockieren.

Wir sehen, wie unterschiedliche Bedürfnisse und alte Verletzungen den Blick und die Gefühle behindern, wie sie es unmöglich machen, jetzt zu einem Handeln miteinander zu kommen, das annähernd dem entspricht, was mit Shalom gemeint sein könnte.

Unser tägliches Arbeiten heißt dann, zu helfen, diesen Blick wieder freizulegen, die Gefühle wieder zum Fließen zu bringen, Kontakt zu den (vergessenen, verdrängten) Bedürfnissen der Personen wieder herzustellen, so dass sie ver-handelbar werden. Oft erleben wir, dass Menschen davon ausgehen, wenn man sich liebt, dann müsste das irgendwie ausreichen, dass man auch den Alltag gut gestalten kann. Für mich wird immer deutlicher, dass Liebe nicht reicht – vor allem dann nicht, wenn die Menschen sich in der Liebe zu sich selber unsicher geworden sind, was sich durchaus oft nach außen als Egoismus oder Narzissmus tarnen kann.

SICH SELBST ACHTEN

Mich beschäftigt immer mehr die Frage, wie es gelingen kann, in jenem guten, liebevollen Kontakt mit sich selber zu sein, den ich für die Grundlage dafür halte, dass Liebe zu anderen möglich ist. Das Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ formuliert, dass der Maßstab der Liebe zu anderen die Liebe und Achtung zu mir selber ist. Doch immer wieder machen Menschen die Erfahrung, dass es für Egoismus gehalten wird, für übertriebenen Individualismus, wenn wir auf unsere eigenen Bedürfnisse achten.

Manchmal haben Menschen gelernt, dass ihre Bedürfnisse nicht sein sollen, dass dies etwas Schlechtes oder Sünde sei. Für mich ist es nicht Sünde, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, sich erwachsen darum zu kümmern, dass Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Sicherheit, Schlaf, Nahrung, Selbstentfaltung in uns vorhanden sind. Wenn man von Sünde reden mag, dann beginnt die, meiner Meinung nach, nicht im Erkennen von Bedürfnissen, sondern im rücksichtslosen Durchsetzen derselben auf Kosten von anderen Menschen und von deren Bedürfnissen.

Abraham Maslow hat beschrieben, dass die Missachtung von Grundbedürfnissen, die bis zu ihrer Leugnung oder Verdrängung reichen kann, zerstörerische Wirkung auf unser Zusammenleben hat. Denn wenn ich die Bedürfnisse in mir nicht achte, werde ich sie auch anderen nicht zugestehen. Dann entsteht Missgunst, Neid, Aggression gegenüber anderen und oft auch gegenüber sich selbst. Und das ist ja dann auch zu hören oder zu erkennen: wenn ich es mir nicht gönne, zugestehe, dann brauchst Du das auch nicht zu haben.

Jahrhunderte wurden Menschen so erzogen: es wurde für erstrebenswert gehalten, sich soweit zurückzunehmen, bis man sich selber nicht mehr spürt. Das führt dazu, anderen dieses Spüren auch nicht mehr zuzugestehen.

MENSCH-SEIN IN VIELFALT

In der humanistischen Psychologie wurde das überzeugend untersucht und auch belegt. Die Frage, die die Forscher bei der Gründung dieser psychologischen Richtung antrieb, war: wie konnte es passieren, dass Menschen sich so unendliches Leid zufügen, wie es im Nationalsozialismus (und anderswo) geschah? Man hat erkannt, dass wir die Menschlichkeit in uns selber nicht abtöten oder leugnen dürfen, weil sich das in Lieblosigkeit, Nichtachtung von Grundbedürfnissen bis hin zu Gewaltausübung rächen kann. Das führt/e dazu, dass Menschen sich und anderen nicht mehr gönnen können/konnten, das eigene Menschsein in seiner Vielfalt zu leben, sondern sich darum bemühten, zu verhindern, dass andere bekommen, was ihnen selbst versagt blieb.

Ich meine, dass nicht im Bewusstwerden von eigenen Bedürfnissen die „Sünde“ wurzelt, sondern im Nicht-Erkennen, im Verleugnen und Verdrängen. Erst wenn wir Bedürfnisse (unser Menschsein) anerkennen, wird es uns möglich, festzustellen, dass die eigenen Bedürfnisse und die eines Anderen manchmal sehr widersprüchlich sind und in Konflikt zueinander stehen. DAS wäre dann auszuhandeln: wie gehen wir fair mit diesen Konflikten um, dass „deine“ und „meine“ Bedürfnisse sich manchmal so sehr widersprechen.

Und ich frage mich auch: wer hat eigentlich einen Vorteil davon, dass Menschen ihre Bedürfnisse nicht wahrnehmen dürfen? Möglicherweise die, die dann leichter ihre eigenen Bedürfnisse als „höherwertig“ durchsetzen können. Leider hat sich da auch die Kirche „am Mensch-sein versündigt“. Wer hat etwas davon, dass Menschen ihre menschlichen Bedürfnisse nicht spüren dürfen? Gott wohl nicht, denn wir sind ja seine Schöpfung. Wir können uns auch die Frage stellen, was wir uns und den anderen damit „schuldig bleiben“.

ABSAGE AN DEN EGO-TRIP

Ich möchte es nochmals deutlich machen: es geht nicht um einen Ego-Trip, alles, was man will, zu bekommen, koste es was es wolle, und andere dabei zu übervorteilen oder zu unterdrücken. Die psychologische Absicht ist vielmehr: erst, wenn wir anerkennen, was in uns an Sehnsüchten und Wünschen ist und wenn wir diese in einem fairen Aushandeln mit anderen gemeinsam gestalten, wird es uns auch möglich sein, zu Gunsten von anderen, Bedürftigeren, auf die Realisierung der eigenen Bedürfnisse (zeit-, oder teilweise) zu verzichten. Aber wer in sich selber Bedürfnisse nicht mehr spüren darf, oder gelernt hat, sie als böse oder als Sünde abzulehnen, der wird sie bei sich und bei anderen bekämpfen. Und das ist das Gegenteil von Friede – Shalom.

Ich bin nach vielen Jahren Beratung immer wieder verwundert, wie wenig Menschen in Kontakt mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen sind, wie wenig wir uns zutrauen, bedürftig zu sein – und die anderen auch und dass es dann eben nicht möglich ist, dass wir uns gegenseitig unterstützen und helfen, gemeinsam und miteinander zu einem guten und friedlichen Zusammenleben fähig zu werden – uns diese Chance gemeinsam „schuldig bleiben“. In der (Konflikt-)Mediation sind wir davon überzeugt, dass das Anerkennen der eigenen und anderen Bedürfnisse die Grundlage für ein faires Aushandeln ist. Dazu braucht es den freien Zugang zu unseren Bedürfnissen, wir müssen sie erkennen und anerkennen, bei uns selbst und beim anderen. Erst dann können wir frei miteinander verhandeln. Was im Kleinen gelingt, und das sehen wir in unserer Arbeit immer wieder, das kann auch im Großen Wirklichkeit werden.

Die meisten Tage trage ich einen Ring, in den „Shalom“ eingraviert ist. Er erinnert mich daran, dass ich mit jeder Geste, mit einem Händedruck den anderen „Shalom“ wünsche – und er mahnt mich, dass ich, im Kleinen meiner Arbeit, dazu beitragen will: zu einem Frieden, zu Shalom – damit dies hoffentlich irgendwann auch in der Welt möglich ist.


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